24.12. 19:04 Uhr. ICE 582. Bordrestaurant. Gänsekeule mit Semmelknödel und Mandel-Brokkoli. Dazu eine Pepsi.
Gibt es etwas, das mehr nach Einsamkeit aussieht, als ein Mann, der an Heiligabend alleine im ICE-Bordrestaurant sitzt und ein typisches Weihnachtsgericht isst?
Ansonsten im Bordrestaurant: Die beiden jungen Damen vom Servicepersonal. Sie müssen jetzt nur wegen mir etwas tun. Vorher unterhielten sie sich noch. Jetzt zaubert die eine meine Gänsekeule. Wie macht sie das eigentlich? Sind die schon fertig und werden nur warm gemacht?
Beim Bezahlen sage ich dann: Das ist ja auch nicht so schön, an Heiligabend hier arbeiten zu müssen. Antwort: Ach, solche wie uns muss es ja auch geben.
Weihnachten. Ich allein im Zug. Was werden jetzt die Späher der Indianer ihrem Häuptling berichten? Ach stimmt, die Indianer habe ich euch ja noch gar nicht vorgestellt. Vorhin in unserem Gottesdienst haben die Kinder ein Theaterstück aufgeführt: Der Häuptling eines Indianerstammes möchte wissen, worum es bei dem großen Tam-Tam der Bleichgesichter geht, das sie Weihnachten nennen. Er sendet Späher aus, die dann verschiedene Bleichgesichter in der Weihnachtszeit beobachten: Gestresste Verkäuferinnen, die über die Speisen und Getränke sprechen, die sie verkaufen. Einen genervten Pfarrer, der keine neuen Ideen für die Weihnachtspredigt findet. Eine Familie, die über Gäste und Kleidung für Weihnachten diskutiert. Und drei Penner, die bei einem Bier über das Fest der Nächstenliebe diskutieren. Nach dem Theaterstück hörten wir von zwei Teens noch ein paar persönliche Gedanken zu Weihnachten. Sie endeten mit der Frage: Was werden die Indianer über den Sinn von Weihnachten denken, wenn sie euch diese Tage beobachten?
Ja, was werden sie denken? Weihnachten ist das Fest, bei dem die schnellen Züge ziemlich leer sind und nur ein paar vereinzelte Leute herumsitzen und nicht miteinander reden.
Im langsamen Zug, der mich vorhin nach Nürnberg brachte, waren zumindest ein paar Leute. Gegenüber von mir ein junger Chinese, der zur Zeit in Erlangen arbeitet, aber heute eigentlich in München (was für ihn eine kleine Stadt ist) sein wollte. Aber irgendwie hatte er seinen Pass vergessen und musste deshalb noch einmal hin und her fahren. Für ihn bedeutet Weihnachten vor allem ein paar freie Tage, die man zum durch Europa reisen nutzen kann.
Und für mich? Sufjan Stevens Songs for Christmas hören und dabei diesen Text im Writeroom tippen? Oder die Vorfreude, auf das, was dieses Weihnachten noch bringen wird? Only at Christmas time singt gerade Stevens. Das erinnert mich daran, dass ich mal die beiden Lieder hören könnte, die sich für mich seit vielen Jahren am meisten nach Weihnachten anfühlen: Microshopping von Alter Ego und Into The Blue von Moby. Das höre ich jetzt mal und schaue aus dem Fenster. Und sehe: Mich. Mein Spiegelbild, das irgendwas ins MacBook tippt. Ich schliesse die Augen, die ersten Töne von Microshopping erklingen. Es ist Weihnachten.